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Robin Ticciati & SCO - Brahms: The Symphonies - Online Merker

Kennen Sie das? Eigentlich lieben Sie Schokoladentorte, aber kaum jemals schmeckt sie so, wie es sich ideal in ihr archaisch-träumerisches Gedächtnis eingebrannt hat. Mir geht es ein wenig so mit Brahms. Seine Musik trägt mich im besten Fall über alle Abgründe des Seins, aber oft klingen seine Symphonien auf Platte so, als ob ein besoffener Beelzebub sich an die Partituren Schumanns gemacht hätte oder ein Dirigent meinte vorführen zu müssen, wie eine von Wagner im Götterdämmerungswahn geschriebene Symphonie geklungen hätte. Oder noch schlimmer sind die „veganen“ Originalklangapostel, die meinen, Brahms wäre von Haydn her zu hören, nach ihrer Vorstellung also dünn und anämisch.

Nichts von alledem bei Robin Ticciati, dem neue Chefdirigenten des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin. Der 34-jährige Engländer hat am 26. September 2017 die Position des Chefdirigenten und Künstlerischen Leiters des Hauptstadt-Klangkörpers übernommen. Vorher hat er neun Jahre lang die musikalischen Geschicke des Scottish Chamber Orchestra aus Edinburgh geprägt, das ja schon unter Sir Charles Mackerras mit innovativen Klanglösungen für klassisches Repertoire aufhorchen ließ. Mackerras hat schon in seiner Einspielung mit dem SCO für das Label TELARC die Visionen eines schlank-sehnigen Klangs verwirklicht, wie sie Brahms selbst während seiner Zeit in Karlsruhe und Meiningen erprobt hat.

Robin Ticciati hat 20 Jahre nach Mackerras den einst als Kritik gedachten Kommentar, Brahms‘ Symphonien wären eher erweiterte Kammermusik als „richtige“ Symphonien, zu einer Tugend umgemünzt. Ihm geht es hier primär um eine Neubestimmung des Verhältnisses und der Balance zwischen Streichern und Bläsern, und dabei insbesondere um die Artikulation der Holzbläser, die Wahl der Streicher-Portamenti oder den bewussten Einsatz von Vibrato als Zierelement. Das hat zur Folge, dass Ticciati sich für eine kleinere Streichergruppe entschieden hat, die Pauken mit Kalbsfellen bespannen ließ sowie Hörner von Wiener Bauart und kleinkalibrigere Posaunen spielen hat lassen. All diese Vorkehrungen dienten dazu, das Klangbild insgesamt aufzuhellen und für nie gehörte koloristische Details aufzubereiten. Keine fett sich überschlagenden Schlagobersorgien der Streicher also und noch weniger martialische Blechbläsersalven. Es ist Ticciati wirklich gelungen, wie er es selbst vorhatte, „das rauschhafte, oftmals raue, romantische Fieber, das in den Partituren steckt, offenzulegen.“ Im Einzelnen ist zu hören dass Ticciati selbst Geiger, Pianist und Schlagzeuger ist.

Ticciati erzählt mit diesem Ansatz die Geschichte der Symphonie eine kurzweilige Strecke lang neu. Sehnsuchts- und lebensübervoll umranken sich geradlinig fordernde Streicher mit den anderen Instrumentengruppen, eine organisch zwischen kraftvoll beschleunigend und entspannend angesiedelte Temporegie sowie eine rhythmisch wie Frühlingsknospen explodierende Besessenheit stellen das hochenergetische Grundraster dar. Da steckt pure Kraft unter der „Motorhaube“. Bei aller spektakulären Detailarbeit spannt Ticciati den großen musikhistorischen Bogen von den Einflüssen Bachs, Schuberts und Beethovens stimmungsmäßig hin zu den Ufern des Wörthersees in Pörtschach oder in die Kurstadt Wiesbaden am Rhein, um final ein Stück vollendetster absoluter Musik in der vierten Symphonie erstehen zu lasen.

Brahms als Bindeglied zwischen Tradition und Fortschritt, aber auch als expressiver Zeuge der genial individuellen Aneignung der Welt. Natürlich sind in den Symphonien emotional die jeweiligen biografischen Lebensumstände enthalten, gibt es konkrete psychologische Bilder, die Eingang in die Noten und unsere Assoziationen gefunden haben. Wichtiger ist es jedoch, dass der heutige Hörer mit den aus dieser Musik sprechenden Anverwandlungen und der musikalischen Substanz sich ganz und gar identifizieren kann, darin einzutauchen vermag. Hier erweist sich Ticciati als der ideale Übersetzer und Deuter ins Jetzt. Die neue Einspielung mit dem SCO ist nicht weniger als DER Brahms unserer Tage.

Die Tonqualität dieser vom 15. bis 29. Mai 2017 in der Usher Hall in Edinburgh aufgenommenen Box genügt höchsten audiophilen Ansprüchen, ist umwerfend plastisch und brillant, LINN eben.

Online Merker
02 April 2018